Wer gut zuhört, braucht keine Glaskugel

BioGrafie: Dr. Walter Rogg

(Stuttgart) – Dr. Walter Rogg, Gr?ndungsgesch?ftsf?hrer der Wirtschaftsf?rderung Region Stuttgart, wird im Juli 2023 in den Ruhestand gehen. In den vergangen fast drei Jahrzehnten hat er die Entwicklung der Region nachhaltig gepr?gt. Auch die Gr?ndung der BioRegio STERN Management GmbH wurde von ihm begleitet, als Aufsichtsrat und Gesellschafter hat er ma?geblich zum Erfolg der hiesigen Life-Sciences-Branche beigetragen.

Wer als Journalist bei einer Zeitung und beim Radio gearbeitet hat, genie?t bei Interviews wom?glich einen kleinen Vorteil. Dr. Walter Rogg, der 28 Jahre lang die Geschicke der Wirtschaftsf?rderung Region Stuttgart GmbH, WRS, geleitet hat und sich nun in den Ruhestand verabschiedet, konnte diesen Vorteil in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder nutzen: „Nach meiner Beobachtung haben Politik und Journalismus ein nicht ganz einfaches Verh?ltnis. Die Politiker beneiden die Journalisten, weil sie sagen und schreiben d?rfen, was sie wollen. Politiker meinen, dass sie sich immer taktisch verhalten m?ssen. Und einige der Journalisten, die ?ber Wirtschaft und Politik schreiben, w?rden es vielleicht gerne mal selbst versuchen. Zu denen geh?rte wohl auch ich.“
Was ihn brennend interessierte, war, wie Politik funktioniert. Nach seinem Studium und der Promotion in Politischen Wissenschaften in T?bingen, einem Zeitungsvolontariat und einer T?tigkeit beim H?rfunk, entschied er sich, dahin zu gehen, wo Politik gemacht wird und wurde Leiter im Referat Presse, ?ffentlichkeit und Standortwerbung des baden-w?rttembergischen Wirtschaftsministeriums. Dann fiel 1989 die Berliner Mauer. „Im Januar 1990, und da gab es immerhin noch die DDR, wurde jemand gesucht f?r ein Informations- und Kommunikationsb?ro in Dresden f?r ganz Sachsen. Das war das Interessanteste, das war erlebte Geschichte. Ich habe gesehen, wie ?ber die Augustusbr?cke die B?rgerbewegung kam und die Wiedervereinigung forderte, w?hrend gleichzeitig aus dem Residenzschloss die Freie Deutsche Jugend mit DDR-Fahnen und dem Ruf „DDR unser Vaterland“ aufmarschierte“, erz?hlt Dr. Rogg. „Dann hat Kurt Biedenkopf als S?chsischer Ministerpr?sident eine eigene s?chsische Wirtschaftsf?rderungsgesellschaft ins Leben gerufen, deren Gr?ndungsgesch?ftsf?hrer ich wurde. Das war unglaublich spannend. Die Beziehungen Sachsens nach Osten, die fr?heren Staaten des Warschauer Vertrags, die Sowjetunion, ich war st?ndig unterwegs. Wir hatten 30 B?ros nicht nur in Sachsen, sondern auch in Afrika, Kanada, Japan, ?berall, die alle zu meiner Wirtschaftsf?rderung geh?rten.“

Echtes Neuland
Nach Baden-W?rttemberg kehrte er 1995 aus privaten Gr?nden zur?ck und wurde erneut Gr?nder: diesmal als Gesch?ftsf?hrer der neuen Wirtschaftsf?rderungsgesellschaft des Verbands Region Stuttgart, der WRS. Die Region Stuttgart ist der st?rkste Wirtschaftsstandort Baden-W?rttembergs: auf 10 Prozent der Landesfl?che werden von 26 Prozent der Erwerbst?tigen rund 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Land erwirtschaftet. Die Region umfasst die f?nf Landkreise B?blingen, Esslingen, G?ppingen, Ludwigsburg und Rems-Murr sowie den Stadtkreis Stuttgart. In insgesamt 179 St?dten und Gemeinden leben rund 2,8 Millionen Menschen. Sich f?r die WRS entschieden zu haben, hat Dr. Rogg nie bereut – und den Journalismus f?r die Wirtschaftsf?rderung aufgegeben zu haben auch nicht: „Letztlich muss ich, wie zuvor als Journalist auch, vor allem spannende neue Themen finden.“ Eines der spannendsten ist die Biotechnologie, obwohl damals viele Menschen mit dieser Branche fremdelten. Mit der BioRegion STERN wurde ein Netzwerk geschaffen, das in vielerlei Hinsicht echtes Neuland war. Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Biotechnologie war nicht auf die Region Stuttgart beschr?nkt, sondern wurde auf den Raum Neckar-Alb mit den St?dten Reutlingen und T?bingen ausgedehnt. Im Jahr 2001 war es schon eine kleine Sensation, dass pl?tzlich St?dte Partner wurden, die an sich eher im Wettbewerb mit der Region Stuttgart stehen. „Anfangs war das nicht ganz konfliktfrei, man hat sich ein wenig misstrauisch be?ugt“, erinnert sich Dr. Rogg. „Aber es ging darum, Menschen zu einem neuen spannenden Thema zusammenzubringen. Letztlich hat das wunderbar funktioniert. Nach den ersten Holprigkeiten hat es sich prima entwickelt. Aufgrund der Kooperation in der BioRegion STERN ist aus der Beziehung der Region Stuttgart zur Region Neckar-Alb ein ganz vertrauensvolles, enges und lebendiges Verh?ltnis geworden.“
Heute z?hlt die BioRegion STERN zu den gro?en und erfolgreichen BioRegionen in Deutschland. Ihr wichtigstes Alleinstellungsmerkmal ist die bundesweit einzigartige Mischung aus Biotechnologie- und Medizintechnikunternehmen sowie die regionalen Cluster der Automatisierungstechnik und des Maschinen- und Anlagenbaus.

Ohne Glaskugel
Ideen finden, Mitstreiter motivieren, aber auch Gelder beschaffen, politische Mehrheiten organisieren, nicht gegen jemanden sondern miteinander – oder wie Dr. Rogg ?ber seine Aufgaben als Wirtschaftsf?rderer sagt: „Man muss zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten ?ber das richtige Thema reden.“ Und dann f?gt er hinzu, was wom?glich sein wichtigstes Erfolgsgeheimnis ist: „Man darf nie denken, dass man kl?ger ist als die anderen, und wenn man es denkt, darf man es sich nicht anmerken lassen.“
Beim Thema Biotechnologie musste Dr. Rogg sich sowieso nicht verstellen: „Ich konnte damit erstmal gar nicht viel anfangen.“ Das ?nderte sich in den folgenden Jahren seiner Zeit als Aufsichtsrat – alternierend Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender – und Gesellschafter grundlegend: „Ich habe vom Gesch?ftsf?hrer der BioRegio STERN Management GmbH, Dr. Eichenberg, viel gelernt.“ Zuerst beispielsweise, dass die Biotechnologie-Community im Vergleich zur klassischen Industrie wie dem Fahrzeug- und Maschinenbau sehr ?bersichtlich ist. Und, dass es ein ehrgeiziges Ziel ist, eine (noch) nicht sonderlich weit entwickelte Branche, die von der Zusammenarbeit mit Universit?ten und Forschungseinrichtungen wie den Fraunhofer-Instituten, dem Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut (NMI), den Max-Planck Instituten sowie den sich entwickelnden Start-ups lebt, strategisch zu st?rken. Zumal wenn man selten von gro?en Gewinnen berichten kann, sondern darum besorgt sein muss, dass in das manchmal noch wenig greifbare Potenzial investiert wird. Wieviel Potenzial in der Branche tats?chlich steckt, hat sich sp?testens seit der Pandemie herumgesprochen – und auch die letzten Skeptiker ?berzeugt. „Niemand zweifelt mehr daran, dass man sich darum k?mmern muss, auch hinsichtlich der Schnittmengen mit Automatisierung, Digitalisierung, KI, Maschinenbau, Medizintechnik. Das ist doch heute klar.“ Dass Dr. Rogg vor ?ber 20 Jahren diese Entwicklung vorausgesehen habe, will er so nicht stehen lassen, muss aber einr?umen: „Wenn man gute Leute kennt, denen zuh?rt und viel mit Wissenschaftlern spricht, dann braucht man als Wirtschaftsf?rderer keine Glaskugel.“

Kein „new normal“
Menschenkenntnis ben?tigte Dr. Rogg daf?r umso mehr. „Nat?rlich bildet sich ?ber die Jahre der Erfahrungen ein Gef?hl aus. Wenn Leute auch nach einem l?ngeren Gespr?ch nicht erkennen lassen, dass sie auch Zweifel haben, dass sie nachdenklich sind, da w?re ich geneigt, zu pr?fen, ob sie nicht Schaumschl?ger und Selbstdarsteller sind. Der Indikator f?r mich ist Selbstzweifel, denn zu gro?es Selbstbewusstsein hindert daran, kl?ger zu werden.“ Dabei muss er selbst immer wieder streitbare Positionen einnehmen und Zielkonflikte aushalten: „Darf man die gr?ne Wiese heute noch zum Gewerbegebiet machen? Gef?hrdete Biodiversit?t ist genauso ein Problem wie der Klimawandel. Wir d?rfen k?nftigen Generationen nicht die Lebenschancen wegnehmen. Aber jetzt wird die Industrie klimafreundlicher, nachhaltiger, energiesparender, ressourcensparender. Und sie braucht neue, beispielsweise energieneutrale, Fabriken, w?hrend man die alten Fabriken immer noch braucht, um das Geld zu verdienen, mit dem Neues erm?glicht wird.“
Ein gutes Beispiel ist f?r ihn die Cellcentric GmbH. Die Brennstoffzellen des Weilheimer Unternehmens k?nnen enorme Mengen an CO2, das Verbrennermotoren aussto?en, ersetzen. „Ja, das neue Klimawerk hat 15 Hektar verbraucht, landwirtschaftliches Gebiet, das man nicht mal so eben leichtfertig opfern darf. Aber in diesem Fall ergab die Abw?gung im Zielkonflikt ganz klar, wie die Entscheidung aussehen musste.“
Es d?rfte eher ungew?hnlich sein, dass ein Wirtschaftsf?rderer derartige Dilemmata so klar benennt, aber f?r die exportstarke Region Stuttgart muss er immer in weltweiten Zusammenh?ngen denken: „Es ist ein Irrtum zu glauben, nach der Pandemie, nach der Krise der Globalisierung mit China, nach dem ?berfall auf die Ukraine, sei alles wieder wie vorher. Es gibt kein ,new normal‘, es gibt ein ,new different‘. Wir haben eine neue Situation auf diesem Planeten, und wenn wir dem nicht Rechnung tragen und ?berlegen, was das hei?t, dann werden wir auch nicht mehr an unsere gro?en wirtschaftlichen Erfolge ankn?pfen k?nnen.“
Trotz dieser Zielkonflikte ist es ihm immer gelungen, als Mann der Kommunikation und nicht der Konfrontation wahrgenommen zu werden. „Im Streit h?tten wir gar nichts erreicht. Wir waren anfangs zehn Leute, das w?ren wir heute noch, wenn uns der Streit das Wichtigste gewesen w?re.“ Dass Dr. Rogg jetzt aufh?rt, ist mitnichten ein Ausdruck von Langeweile: „Wenn man so viel von sich selbst einbringt, wenn man pers?nlich glaubw?rdig und ?berzeugend sein will, geht das auch an die Substanz. Ich kann nicht alles im B?ro lassen, mir fallen abends beim Einschlafen Dinge ein, die ich nicht gemacht habe, die ich am n?chsten Morgen dringend machen muss, es vergeht auch kaum ein Urlaubstag, an dem ich nicht maile oder mit Kollegen telefoniere. Deswegen ist es Zeit, aufzuh?ren mit 66. Man kann das nicht ewig machen.“

Abschied und Neuanfang
Dennoch merkt man ihm an, dass er ein wenig Sorge hat, dass ihm das alles fehlen wird: der Austausch mit seinem Team, die Diskussionen. Schlie?lich sei seine Arbeit dann die reine Erholung, wenn wieder einmal etwas richtig gut geklappt hat: „Diese Erfolge tun so gut, das ist nicht vergleichbar mit irgendetwas anderem.“

Nat?rlich genie?t er auch die Zeit mit seinem Sohn, der inzwischen Philosophie studiert: „Wenn ich die Chance habe, mit ihm ein paar Stunden dar?ber zu sprechen, woran er gerade arbeitet, dann vergesse ich alles andere. Weil ich selbst sehr fr?h meinen Vater verloren habe, war mir die Zeit mit meinem Sohn immer besonders wertvoll.“ Die Abschiedsreden, deren erste er bereits zu h?ren bekommen hat, sieht er mit gemischten Gef?hlen – und g?nzlich unger?hrt ist er dabei nicht: „Was immer wieder gesagt wird, ist, dass ich auf die Leute zugegangen sei, dass ich eine verbindliche, vers?hnliche, ausgleichende Art h?tte. Wenn das das Einzige sein sollte, woran man sich erinnert, dann w?re das wirklich nicht schlimm.“

Ob er in Zukunft weiterhin dreimal in der Woche morgens um sieben ins Mineralbad Leuze geht, um – nat?rlich im Kaltbecken – seine Bahnen zu ziehen, wei? er noch nicht. Und nat?rlich wird sich Dr. Walter Rogg nicht g?nzlich in den „ruhigen“ Ruhestand verabschieden. Er m?chte als Selbst?ndiger seine Erfahrungen in der Mediation einbringen. „Und wenn das nichts wird, dann studiere ich Theologie. Wenn man von der Jenseitsperspektive mal absieht, geht es auch der Theologie darum, dass die Menschen ein gutes Leben haben. Das ist doch nicht das Schlechteste.“

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